Eine Wurst ist eine Wurst und andere Wahrheiten aus dem Wörterbuch der Angst

Micro - 14.10.2025 – Politik, Regierung, Gesellschaft

Bundeskanzler Friedrich Merz hat den Satz gesprochen, den vermutlich kein Mensch vermisst, aber alle verdient haben:

Eine Wurst ist eine Wurst. Wurst ist nicht vegan.

Das ist keine humorvolle Nebensächlichkeit, sondern ein politisches Statement und zwar eines, das tief blicken lässt in die sprachpolitische Psyche einer Partei, die sich zunehmend in ihren eigenen Wiedersprüchlichkeiten verheddert. Denn dieser Satz ist nicht nur über Wurst. Er ist über Macht, Identität und die Angst, dass sich die Welt verändert, ohne vorher Bescheid zu sagen.

Sprachreinheit als Ersatzreligion

Was hier als Verbraucherschutz verkauft wird, ist in Wahrheit eine Art kulturelles Reinheitsgebot, ein Versuch, Ordnung in eine Wirklichkeit zu zwingen, die längst zu vielfältig geworden ist. Man will nicht wissen, was drin ist, man will wissen, wer dazugehört.

Die Idee, dass nur Fleischprodukte “Wurst” heißen dürfen, ist keine Sorge um Klarheit, sondern ein Sprachritual der Zugehörigkeit. Man verteidigt das Wort, weil man glaubt, mit dem Wort auch die Welt zu retten.

Dabei geht es nicht um Fleisch, sondern um das Gefühl, dass einem jemand den Grill wegnimmt. Die “Veggie-Wurst” steht sinnbildlich für alles, was angeblich die alte Ordnung bedroht: Gendersternchen, Wärmepumpe, Fahrradhelm und das Gefühl, dass der Nachbar vielleicht weniger Angst vor Zukunft hat.

Wenn Wurst zur Weltanschauung wird

Die politische Rechte liebt einfache Definitionen. “Eine Wurst ist eine Wurst” klingt harmlos, ist aber Teil derselben Haltung, die auch hinter dem Widerstand gegen das Gendern steckt. Denn dort heißt es sinngemäß: “Der Arzt meint natürlich auch die Ärztin - was stellst du dich so an?”

Es geht also nicht um sprachliche Klarheit, sondern darum, wer in der Sprache überhaupt vorkommt. Beim Gendern sollen Frauen, nicht-binäre und queere Menschen sichtbar werden und genau das wird bekämpft. Beim Wurstverbot sollen vegane und vegetarische Produkte unsichtbar gemacht werden. Beides folgt der gleichen Logik: Nur das, was in der eigenen Welt vorkommt, soll sprachlich existieren dürfen.

Das generische Maskulinum, das angeblich alle “mitmeint”, funktioniert in Wahrheit wie ein sprachlicher Rolladen: Es lässt die Sonne herein, aber nur für die, die im richtigen Zimmer sitzen. Und wie beim Abtreibungsrecht oder der “klassischen Familienpolitik” geht es nicht um Moral, sondern um Kontrolle über Deutung und Körper. Wer bestimmt, was “Wurst” oder “Frau” bedeutet, der bestimmt auch, wer dazugehören darf und wer nicht.

Was einst die Kirche mit Dogmen tat, erledigt heute der Kulturkampf mit Sprachverordnungen. Dabei ist Sprache lebendig, elastisch, widersprüchlich, genau wie die Menschen, die sie benutzen. Aber diese Lebendigkeit ist unbequem, weil sie Kontrolle erschwert. Deshalb braucht es Sätze wie diesen: kurz, simpel, ideologisch versiegelt.

Die Wurst und das Bier - Heilige Produkte, doppelte Moral

Wenn man konsequent wäre, müsste man dann auch das Reinheitsgebot für Bier wieder scharfstellen. Denn laut der gleichen Logik wäre ein Biermischgetränk kein Bier, sondern eine “fermentierte Hopfenlimonade mit Aromazusatz”. Ein “Radler” wäre schlicht illegal. “Becks Ice”, “Schöfferhofer Grapefruit” oder “Bananenweizen”, alles strafbare Verstöße gegen das heilige Reinheitsgebot der deutschen Seele.

Doch da greift niemand ein. Weil Bier identitätsstiftend ist, während “Veggie-Wurst” identitätsgefährdend scheint. Bier darf sich anpassen, Wurst nicht. Das ist nicht Logik, das ist Ideologie in Pellenform.

Sprachpolizei von oben - Sprachwandel von unten

Das eigentlich Absurde ist:
Wenn konservative Politiker über “Gendern” schimpfen, werfen sie den Befürwortern vor, die Sprache zu verändern. Wenn dieselben Politiker jetzt per Gesetz festlegen wollen, was “Wurst” heißen darf, dann nennen sie das “Schutz”.

Das eine ist in den Augen von CDU/CSU “Sprachverfall”, das andere “Klarheit”. Dabei ist es exakt das Gleiche: Eingriff in Sprache. Nur der Zweck ist ein anderer.

Der Unterschied:
Gendern kommt von unten, aus gelebter Praxis, aus dem Wunsch nach Inklusion und Sichtbarkeit. Die Wurst-Definition kommt von oben, aus politischen Kalkül, aus der Angst vor Kontrollverlust. Das eine ist eine Sprachentwicklung. Das andere eine Sprachverordnung.

Der Mensch als Wurstversteher

Das Lustige - und gleichzeitig Tragische - ist, dass Sprache schon immer voll war von Begriffen, die falsch, doppeldeutig oder poetisch sind. Niemand stört sich daran. Bis jemand beschließt, dass sich jemand daran stören sollte.

Ein paar Beispiele aus dem echten Leben:

Scheuermilch - keine Milch, kein Scheuer-Andi drin.

Kalter Hund - kein Tier, sondern Kuchen.

Leberkäse - enthält weder Leber noch Käse.

Mettigel - kein Igel, aber durchaus gefährlich.

Bienenstich, Berliner, Russisch Brot - gelebte Täuschung im Süßwarenregal.

Katzenzungen - glücklicherweise ohne Katzen.

Drahtesel, Glühbirne, Papierkorb - alles würde nach CDU/CSU-Logik durchfallen. Ja müsste sogar verboten werden! SOFORT!

Wenn man die “Wurst-ist-Wurst”-Logik ernst nähme, müsste man konsequent weitergehen:

  • Verbot von Scheuermilch.
  • Zensur von Kinderpunsch.
  • Und die sofortige Umbenennung von Kaltem Hund in “nicht-tierischen Konditorriegel mit Nostalgiefaktor”.

Alltagssprache als Tatort

Es gibt aber noch bessere Beispiele, weil sie zeigen, wie unvermeidlich ungenau Sprache ist und wie wunderbar sie trotzdem funktioniert.

An fast jeder Werkstatt steht:

“Kundenannahme”
Niemand nimmt dort Kunden an.
Es wird kein Mensch angenommen, nur das Auto.

Nach derselben CDU/CSU-Logik müsste das Schild heißen:
“Annahme defekter Fahrzeuge im Auftrag physischer Personen.”

Und wenn an der Mülldeponie ein Schild steht:

“Anlieferungen Fußgänger“,

dann müsste man sofort die Polizei rufen wegen Verdacht auf Menschenhandel. Denn natürlich werden keine Fußgänger angeliefert. Jeder weiß, was gemeint ist.

Sprache ist pragmatisch, nicht puristisch. Sie funktioniert, weil wir uns verstehen, nicht weil ein Ministerium uns erklärt, was wir sagen und wie wir etwas verstehen dürfen.

Das Missverständnis vom “gesunden Menschenverstand”

Konservative Rhetorik liebt den Begriff “gesunder Menschenverstand”. Doch meist bedeutet er: “So wie ich die Welt sehe.”
Wer etwas anders versteht, ist schon verdächtig.

Dass sich Sprache ändert, war schon immer so. Früher galt “geil” als unanständig, heute ist es eher ein Kompliment. “Handy” ist kein englisches Wort, “Laptop” auch kein Schoß, und “Cloud” ist keine Wolke.

Niemand ruft nach einem Verbot dieser Begriffe. Aber bei “Veggie-Wurst” - da hört die Freiheit plötzlich auf. Weil sie an einer symbolischen Wunde kratzt: dem Gefühl, dass Tradition plötzlich optional geworden ist.

Die heilige Ordnung der Wörter

Diese ganze Debatte ist im Kern eine nostalgische Projektion. Man sehnt sich nach einer Welt, in der Wörter noch eindeutig waren, Männer Männer waren, Frauen Frauen und Wurst einfach nur Wurst.

Doch diese Welt hat es nie gegeben. Sprache war immer ein Spiegel sozialer Dynamik, kein Museum. Die Forderung nach “Sprachreinheit” ist also nichts anderes als die Weigerung, die Gegenwart zu akzeptieren.

Wenn Begriffe zum Glaubensbekenntnis werden, dann wird Politik zum Katechismus. Und aus der Wurst wird ein Dogma im Naturdarm.

Fazit: Die Angst vor der Mehrdeutigkeit

Die Wurstdebatte ist kein Witz, sie ist ein Symptom. Sie zeigt, wie tief die Angst vor Veränderung in der CDU/CSU sitzt und wie bereitwillig Sprache dafür geopfert wird.

Es geht längst nicht mehr darum, was wir essen, sondern was wir sagen dürfen, ohne dass CDU und CSU gleich die nationale Identität in Gefahr sehen. Wer sich politisch vor einer Veggie-Wurst fürchtet, leidet nicht an Mangelernährung, sondern an Bedeutungsverlust.

Denn wenn Sprache politisch wird, dann ist die Frage nicht mehr: “Was ist eine Wurst?” sondern: “Wer darf bestimmen, was eine Wurst ist?”

Und darauf gibt es nur eine Antwort:

Die Sprache selbst.

  • Denn sie gehört nicht der Politik,
  • nicht der Industrie,
  • und schon gar nicht dem Kanzler.

Sie gehört denen, die sie benutzen. Und die wissen in der Regel ziemlich genau, dass “Veggie-Wurst” keine Schweine enthält, wohl aber mehr Vernunft als so mancher Politiker-Satz in einer Pressekonferenz oder Interview.

©  EDG-Dortmund, Foto: 361-grad.eu - Schild: Anlieferung Fussgänger
© EDG-Dortmund, Foto: 361-grad.eu - Schild: Anlieferung Fussgänger

Kommentare

Falls ihr welche loswerden wollt, per Mail oder Bluesky.


Sancho-p per Bluesky

Hihi - “Und aus der Wurst wird ein Dogma im Naturdarm.” Das Wort Naturdarm existiert ja nur deswegen, weil man akzeptiert, dass es auch andere Därme geben könnte. Aber nach der Kanzlerlogik ist ein Darm halt ein Darm…

Danke, das mit dem Darm habe ich tatsächlich übersehen. (eigentlich in mehrfacher Hinsicht, aber das ist ja jetzt nicht Thema. ,o))