Zehnmal AfD - einmal Piraten

Micro - 19.12.2025 – AfD, Piratenpartei, Gesellschaft

Seit 2010 sind in Deutschland etwa zehnmal mehr Bücher über die AfD erschienen als über die Piratenpartei. Diese Zahl wirkt auf den ersten Blick banal - schließlich ist die AfD heute parlamentarisch präsent, während die Piraten politisch marginalisiert sind. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Denn Bücher entstehen nicht dort, wo Macht ist, sondern dort, wo Spannung, Angst und Deutungskämpfe stattfinden.

Das Missverhältnis ist deshalb kein bibliographischer Zufall, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Prioritäten und weist deutlich auf die Probleme dieser Gesellschaft hin.

Bücher messen Angst, nicht Hoffnung

  • Die Piratenpartei war ein politisches Versprechen.
  • Die AfD ist ein politisches Risiko.

Diese Unterscheidung erklärt fast alles.

Über die Piraten wurde geschrieben, weil sie neu waren: als Experiment einer digital geprägten Demokratie, als Versuch, politische Prozesse transparenter, offener und partizipativer zu gestalten. Die Literatur über sie ist überwiegend analytisch, akademisch, erklärend. Sie fragt: Was wollten sie? Warum funktionierte es (nicht)?

Über die AfD wird geschrieben, weil sie als Bedrohung wahrgenommen wird. Ihre Literatur ist warnend, normativ, oft explizit politisch. Sie fragt nicht nur: Was ist die AfD?, sondern: Wie stoppen wir sie?

Bücher entstehen dort, wo ein gesellschaftlicher Alarm ausgelöst wird. Die Piraten lösten Neugier aus. Die AfD löst Abwehr aus.

Gestaltungsfragen gegen Verteidigungsfragen

Die Piratenpartei stellte Gestaltungsfragen:

  • Wie kann Demokratie in einer digitalen Gesellschaft funktionieren?
  • Wie viel Transparenz verträgt der Staat?
  • Wie verändert das Netz politische Macht?

Das sind komplexe, langfristige Fragen. Sie erzeugen keine unmittelbare Dringlichkeit, keine moralische Eskalation, keine klare Frontstellung. Man kann sie vertagen. Man kann sie technokratisch behandeln. Man kann sie aussitzen.

Die AfD stellt Verteidigungsfragen:

  • Wie stabil ist die liberale Demokratie?
  • Wo beginnt die Normalisierung des Autoritären?
  • Welche Teile der Gesellschaft kippen ideologisch?

Diese Fragen lassen sich nicht vertagen. Sie zwingen zur Positionierung. Sie produzieren Diskurs, Gegenrede, Mobilisierung - und damit Bücher.

Die paradoxe Unsichtbarkeit konstruktiver Politik

Rückblickend ist es fast ironisch: Viele Themen der Piratenpartei haben sich als gesellschaftlich relevant erwiesen. Datenschutz, Überwachung, Open Data, digitale Bürgerrechte, Beteiligungsplattformen - all das ist heute Teil politischer Realität.

Doch gerade weil diese Themen konstruktiv waren, fehlte ihnen ein Eskalationsmoment. Sie bedrohten keine Identitäten, keine kulturellen Grundmuster, keine nationalen Narrative. Sie forderten Reform, nicht Abgrenzung.

Die AfD hingegen produziert kontinuierlich Eskalation. Jede Provokation, jede Radikalisierung, jede Grenzverschiebung erzeugt neuen Analysebedarf. Die AfD ist nicht nur politische Akteurin, sondern ein permanenter Diskursgenerator.

AfD-Literatur als gesellschaftlicher Selbstschutz

Ein erheblicher Teil der AfD-Bücher erfüllt eine defensive Funktion. Sie sind Werkzeuge:

  • für politische Bildung,
  • für Journalismus,
  • für Zivilgesellschaft,
  • für demokratische Selbstvergewisserung.

Sie erklären Strategien, entlarven Narrative, ordnen Ideologien ein. Viele dieser Bücher sind weniger Analyse als Intervention. Sie wollen nicht nur verstehen, sondern verhindern.

Das erklärt ihre Menge, ihre Aktualität, ihre Wiederholung. Die AfD wird nicht abgeschlossen, sie wird fortlaufend bearbeitet - weil die Bedrohung nicht als überwunden gilt.

Die stille Entscheidung der Öffentlichkeit

Das Verhältnis von zehn zu eins sagt daher weniger über Parteien als über die Gesellschaft, die über sie schreibt.

Es zeigt eine Öffentlichkeit im Verteidigungsmodus. Eine Öffentlichkeit, die mehr Energie darauf verwendet, Gefahren zu analysieren, als Zukunft zu entwerfen. Reformideen werden historisiert, Risiken werden aktualisiert.

Die Piratenpartei ist abgeschlossen. Die AfD ist offen.

Schlussgedanke

  • Bücher über die AfD sind ein Symptom.
  • Bücher über die Piraten sind ein Nachruf.

Oder anders formuliert:

Eine Gesellschaft, die zehnmal mehr über das schreibt, was sie fürchtet, als über das, was sie gestalten könnte, hat ihre politische Fantasie bereits teilweise aufgegeben.

Vielleicht ist das eigentliche Versäumnis nicht, dass die Piraten gescheitert sind - sondern dass niemand ernsthaft versucht hat, ihre Fragen weiterzudenken.

Fazit

Der Piratenpartei fehlte am Ende weniger die Idee als das ™.

Nahezu alle ihrer zentralen Themen - Transparenz, digitale Bürgerrechte, Datenschutz, staatliche Zurückhaltung bei Überwachung, Open Data, neue Beteiligungsformen - sind heute fester Bestandteil politischer Programme. Allerdings nicht mehr unter dem Namen derer, die sie zuerst konsequent formuliert haben. Sie wurden übernommen, entkernt, umetikettiert und als eigene Errungenschaften verkauft.

Insbesondere CDU/CSU und SPD haben sich im Laufe der Jahre mit genau jenen Positionen geschmückt, die sie zuvor belächelt, ignoriert oder aktiv bekämpft hatten. Nicht aus inhaltlicher Überzeugung, sondern aus Mangel an eigenen Antworten auf die digitale Transformation der Gesellschaft. Wo eigene Ideen fehlten, griff man auf bereits Gedachtes zurück - ohne Herkunftsnachweis.

Die Piratenpartei scheiterte damit nicht an der Qualität ihrer Themen, sondern an der politischen Realität:

  • Wer keine Macht hat, kann seine Ideen nicht schützen.
  • Wer keine institutionelle Verankerung besitzt, verliert die Deutungshoheit.

Die etablierten Parteien konnten sich die Inhalte leisten, ohne den Absender mitzunehmen. Die Piraten konnten sich den Verlust ihrer Themen nicht leisten.

So bleibt als bittere Ironie:

Die Piratenpartei hat die Debatten gewonnen, aber die Markenrechte verloren.

Und genau deshalb gilt sie heute als gescheitert - während andere sich mit ihren Ideen schmücken und dafür Beifall erhalten.

Wisst ihr was noch schlimmer ist? CDU/CSU kopieren nun auch Inhalte der AfD!


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Was das Ungleichgewicht politischer Bücher über den Zustand der deutschen Öffentlichkeit verrät
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