Warum Grimms Märchen eigentlich nur noch im Kontext erzählt werden dürften?
Wisst ihr noch? Grimms Märchen? Die Anstalt hat mich an etwas erinnert, das schon Jahrzehnte zurückliegt. An meine Kindheit, sozusagen. Ich bin auf dem Dorf groß geworden. Sehr ländlich also, umgeben von Bauernhöfen, Altbauern zumeist, die eine “präventive” Macht im Ort ausübten. Das mag irreführend klingen, aber “präventiv” passt hier, denn obwohl sie nichts zu sagen hatten, waren sie doch überall präsent. So lebte bei uns ein “merkwürdiger” Mann im Dorf. Je mehr ich darüber nachdenke, an desto mehr Details erinnere ich mich.
Er hatte einen Buckel, weswegen er immer sehr gebeugt laufen musste. Zudem konnte er nicht sprechen, die Vermutung liegt nahe, dass er außerdem auch noch gehörlos war. Er fuhr oft mit dem Rad, laufen fiel ihm wohl schwer, denn er humpelte immer. Seine Sprache war wirklich nicht verständlich. Es waren immer nur “Laute”, die er von sich geben konnte, verbunden mit wilder Gestik seiner Hände. Er wohnte im abgewracktesten Haus des Ortes, welches zu allem Übel wirklich am Ortsausgang und an einem Feldweg lag. Von den Großbauern bekam er zwar einen Job, aber den schlimmsten den man sich vorstellen konnte. Er durfte die Gülle schieben, die an manchen Tagen alles verstopfte und insbesondere im Sommer, abartig stank. Das führte nun seinerseits dazu, dass er nicht den angenehmsten Geruch versprühte, was erneut zu weiteren Vorurteilen führte. Und er wurde, nicht nur sprichwörtlich, von allen getreten, wo immer auch er auftauchte. Ich weiß nicht wie alt er damals war und was aus ihm wurde. Ich denke er muss damals so um die 40 gewesen sein. Es kann aber auch sein er war 20 Jahre jünger oder älter. Jedoch, so wie ich unser Dorf kenne, wurde er irgendwann, irgendwo verscharrt. Und ich meine es genau so wie ich es schreibe.
Jede Katze, jeder Hund - und wer auf dem Dorf groß geworden ist wird sich daran erinnern, die hatten auch nichts zu lachen - bekamen mehr Zuneigung als eben jener Mann.
Ja, damals war das so. Ich will nicht sagen wir Kinder hätten Angst vor ihm gehabt. Es befiel uns immer nur so ein “Unwohlsein” in seiner Nähe. Ich meine mich zu erinnern, dass er uns ab und an sogar anlächelte, was von uns dann aber als “Hexenartiges Grinsen” interpretiert wurde. Ich meine, wir haben es doch genau so vorgelebt bekommen. Nicht zuletzt sind alle Märchen der Gebrüder Grimm doch auf dem gleichen Schema aufgebaut. Alle die “anders” aussahen, anders waren, nicht der Norm entsprachen, wurden zu Hexen, Kobolden, Zwergen usw. gemacht. Waldgeister, Dorfgeister, Trolle und, und, und. Genau dieser Mann erfüllte all diese Klischees.
Warum ich das schreibe? Weil ich auf Grund meiner eigenen Erfahrungen und den Aussagen aus “Der Anstalt”, etwas lernen musste. Ich musste lernen mir eine Frage zu stellen: “Kann man das ändern? Und wenn ja, wie?!”
Stellt man sich aber diese Fragen, dann muss man den Weg auch bis zu Ende gehen und z.B. die Frage stellen: “Sind Grimms Märchen eigentlich noch Zeitgemäß?!”
Kulturhistorisch betrachtet, ohne jeden Zweifel! Sie gehören zur eigenen Geschichte dazu. So wie eben mein Umgang damals mit diesem Mann. Er ist, ob ich das will oder nicht, Teil meiner eigenen Geschichte. Mein Verhalten damals mag unter “normal” abgetan werden. Aber ist es nicht so, dass man sich weiterentwickeln kann/muss? So sollte man, zumindest in der heutigen Zeit, sich selbst ehrlich hinterfragen. Auch wenn es weh tut. Und hier komme ich dann zu dem Schluss, dass zwar das Kulturgut “Grimms Märchen” immer noch toll ist, aus heutiger Sicht jedoch nichts anderes sind als gelebter Rassismus. Rassismus der so fatal tief in die Gesellschaft eingebettet ist, dass es schwer ist dem zu entkommen.
Wenn die Einsicht - Grimms Märchen enthalten Rassismus - als solches schon mal erkannt wird, ist alles gut. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Märchen jedoch nun umzuschreiben, zu verbieten, oder wie auch immer, was dann einige Extremisten so fordern, das geht zu weit. Das ist dann nichts anderes als Zerstörung. So wie man es damals gemacht hat, als Geschlechtsorgane einfach an den Statuen entfernt bzw. umgearbeitet worden sind. Man zerstört damit schlicht Kulturgüter, die dem damaligen Zeitgeschmack entsprachen. Also dem Kontext dieser Zeit entsprangen. Warum will man also heute ganze Bücher umschreiben? Also den Kontext von damals entfernen? Warum will man sich nicht lieber die Mühe geben, einen neuen Kontext hinzuzufügen? Ist es wirklich so schlimm, an die eigene Vergangenheit erinnert zu werden, weswegen man sie lieber gleich auslöscht und so tut als ob nie etwas gewesen wäre?
Etwas zu entfernen, aus welchen hehren Beweggründen auch immer, ist dann nichts anderes als Geschichtsklitterung. Man möchte nicht an seine eigene Vergangenheit erinnert werden.
Ich für meinen Teil erinnere mich an diesen Mann. An das Unrecht, das auch ich ihm angetan habe. Damit wird es weder für mich besser noch bedeutet das Abbitte in irgend einer Form. Die Beweggründe in der heutigen Gesellschaft so etwas nicht mehr zu tolerieren, Grimms Märchen weiter zu erzählen - jedoch mit neuem Kontext - sollte immer sein, die Gesellschaft zum positiven hin zu verändern. Leider ist das ein Prozess der Jahrhunderte andauern kann, etwas das man selbst nicht mehr erleben wird. Spätestens hier versagt bei den meisten dann der Verstand. Denn;
“Etwas wovon ich nicht mehr profitieren kann, ja das sollen dann andere nach mir richten, ich nicht.”
Ja so ist das in Gesellschaften, die auf Prunk, Protz und Götzen mehr Wert legen als auf Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und echte Nächstenliebe.