Die Türme aus Gold - Ein Scheibenwelt-Märchen (Teil 1)
Prolog - Von Dingen, die so groß sind, dass man sie übersieht
Wenn etwas wirklich, wirklich groß ist, neigt der menschliche Geist dazu, es nicht zu bemerken. **
Das gilt für Berge, Bürokratien, und besonders für Geld.
** Oder für Berge aus Bürokratie, die, wie Geologen bestätigen, aus verdichteten Formularen und der Fossilienreste abgelehnter Anträge bestehen.
Auf der Scheibenwelt gibt es viele Dinge, die niemand versteht: Magie, Zeit, und die Steuererklärung der Reichen. Letztere ist die komplizierteste Form von Magie, sie verwandelt große Mengen Gold in… nichts. Nicht in weniger Gold, wohlgemerkt, sondern in ein konzeptionelles Nichts. Das Gold ist noch da, es hat nur beschlossen, sich in einer Dimension aufzuhalten, in der Finanzämter keinen Zutritt haben.
So begab es sich, dass im stolzen Stadtstaat Ankh-Morburg ** Türme wuchsen. Nicht aus Stein, sondern aus Zahlen. Jeder Turm stand auf einem Fundament aus Paragrafen, gegossen in Anwaltssprache, gehärtet in Lobbygremien.
** Nicht zu verwechseln mit Ankh-Morpork, obwohl Ankh-Morburg sich selbst gerne als “moderner” bezeichnet. Es hat weniger Gestank, aber deutlich mehr PR-Berater.
Die Bürger sahen diese Türme nicht, denn sie waren aus Geld gebaut, und Geld ist bekanntlich die unsichtbarste Substanz des Universums. (Zumindest, wenn es jemand anderem gehört.)
Teil 2: Der Bruch im Turm - Von kleinen Funken und großen Lügen.
Kapitel 1 - Die unsichtbaren Türme
Die Türme der Reichen ragten so hoch, dass sie die Wolken durchstießen, die Sonne teilten und den Blick auf die Realität versperrten. Ganz oben saßen die Hochfinanzierten, eine Spezies, die evolutionär aus der Familie der Menschen hervorgegangen war, aber inzwischen über ganz eigene Anpassungen verfügte:
- Sie atmeten Zinsen,
- sie sonnten sich in Steuervergünstigungen,
- und sie vermehrten sich durch Holdinggesellschaften.
Die Hochfinanzierten glaubten an einen Gott namens Markt, ein launisches, unsichtbares Wesen, das besänftigt werden musste, indem man ihm Opfer darbrachte - meistens in Form von Sozialleistungen, die man irgendwo anders strich.
Man erzählte sich, dass der Markt empfindlich sei. Wenn jemand es wagte, das Gold der Hochfinanzierten auch nur leicht zu berühren, bekam er sofort schlechte Laune, und das Wetter verschlechterte sich. **
** Beziehungsweise: die Wettervorhersage in den Nachrichten. Und das ist ja praktisch dasselbe.
Die Türme waren nicht nur hoch, sie waren auch breit. Jede Etage war ein Steuerparadies, jede Wendeltreppe führte in ein Offshore-Konto. Es hieß, irgendwo ganz oben, in der dünnen Luft der Macht, lebten Wesen, die noch nie einen Supermarkt von innen gesehen hatten.
Kapitel 2 - Eine Welt, in der Reichtum einfach “verschwindet”
Reichtum, so sagten die Ökonomen von Ankh-Morburg, sei wie Wasser: er fließe nach unten, wenn man ihn nur in Ruhe lasse. In Wirklichkeit war Reichtum aber eher wie heißer Dampf, er stieg nach oben, sammelte sich in Wolken über den Türmen und regnete nie zurück.
Es gab sogar ein Ministerium dafür: das Amt für Denkmalschutz Finanzieller Interessen. Seine Aufgabe war es, zu erklären, warum man nichts tun könne. Und darin war es hervorragend.
Die Bürger wussten, dass etwas nicht stimmte. Sie sahen die Mieten steigen, die Straßen bröckeln, und die Blicke der Nachrichtensprecher, wenn wieder jemand sagte: “Wir müssen sparen.”
Aber sie wussten auch, dass die Hochfinanzierten “Jobs schufen”. Niemand wusste genau, wo, aber es war ein so beruhigender Satz, dass niemand es zu hinterfragen wagte. Das war der eigentliche Zauber der Türme: Sie hielten sich nicht nur durch Geld aufrecht, sondern durch Glauben.
Und Glauben ist die stärkste Währung überhaupt.
Kapitel 3 - Warum alle nach oben schauen, aber niemand hinblickt
Manchmal, an besonders klaren Tagen, konnte man von den unteren Vierteln aus die Spitze eines dieser Türme sehen, ein goldenes Glitzern über der Dunstglocke der Stadt.
“Schau nur”, sagten die Bürger, “was für ein Anblick! So ein Erfolg ist doch bewundernswert.”
“Ja”, sagte jemand anderes, “eines Tages werde ich auch da oben sein.”
Aber niemand fragte, warum der Schatten dieser Türme über den ganzen Stadtplatz fiel.
Denn wer nach oben blickt, sieht selten, was ihm direkt vor den Füßen liegt.
Die Hochfinanzierten wussten das. Deshalb investierten sie großzügig in Ablenkung. In Unterhaltung, Empörung, Skandale. In Ankh-Morburg konnte man ganze Wochen damit verbringen, sich über Kleinigkeiten aufzuregen, während im Hintergrund Milliarden auf die Cayman-Inseln segelten.
Es gab sogar eine Zeitung, die sich Der Wahrheitskompass nannte, aber hauptsächlich dafür bezahlt wurde, in jede andere Richtung zu zeigen.
Und so lebte man weiter, halb im Schatten, halb im Schein der Türme.
Man nannte es “Wirtschaftswachstum”.
Kapitel 4 - Die Zensoren der Wirklichkeit **
** auch bekannt als Medienlogik
In Ankh-Morburg war Magie offiziell verboten - außer, sie trug einen Anzug und nannte sich “Kommunikation”.
Diese moderne Form der Zauberei wurde von den Einflussmagiern beherrscht. Es waren keine klassischen Zauberer mit Hüten, sondern Männer und Frauen mit Mikros, Kameras und Drehbüchern, die so glatt waren, dass man sich darin spiegeln konnte.
Sie nannten sich Journalisten und sie schworen, die Wahrheit zu suchen.
Allerdings stellte sich heraus, dass die Wahrheit selten Werbeeinnahmen brachte. Also suchten sie stattdessen: Spannung, Emotion, und etwas, das man in 140 Zeichen erklären konnte.
Sie webten ihre Sprüche nicht aus Zauberformeln, sondern aus Schlagzeilen. Ihre Magie bestand darin, Worte so aneinanderzureihen, dass sie wie Gedanken klangen - aber keine waren.
Man erkannte sie daran, dass sie jedes Thema in eine Geschichte verwandelten. Geschichten sind mächtig. Sie brauchen Helden, Opfer und das ist entscheidend, Bösewichte. Ohne Bösewicht kein Drama, ohne Drama keine Aufmerksamkeit, und ohne Aufmerksamkeit keine Klicks.
Darum mussten sie sich stets neue Bösewichte erfinden:
- Früher waren es Hexen,
- dann Ausländer,
- dann Sozialschmarotzer,
- dann das Wetter.
Jedes Jahrzehnt hatte seine eigenen Monster, sorgfältig hergestellt im Alchemielabor der Meinung.
Die Einflussmagier wussten, dass die Menschen nicht auf Zahlen reagieren, sondern auf Zorn. Zahlen lassen sich ignorieren, Wut dagegen klebt an der Seele wie Zuckersirup.
Und so verwandelten sie selbst harmlose Themen in Empörungsstürme.
Wenn jemand über Vermögenssteuer sprach, hieß es plötzlich:
“Man will euch das Ersparte rauben!”
Und das reichte. Niemand fragte mehr, wer eigentlich “man” war, oder wessen Ersparnisse wirklich gemeint waren.
Fortsetzung:
Teil 2: Der Bruch im Turm - Von kleinen Funken und großen Lügen.
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