Die Türme aus Gold - Ein Scheibenwelt-Märchen (Teil 2)
Kapitel 5 - Das Märchen vom “Markt”, der sich selbst reguliert **
** wie ein nasser Sack Steine
Der Markt war das größte Märchen von allen. Man erzählte, er sei eine Art lebendes Wesen, unsichtbar, gerecht, rational.
In Wahrheit war er ein alter Mann mit fettigen Haaren, der in einem Hinterzimmer Würfel warf und “Effizienz!” rief, wenn er gewann.
Man sagte, der Markt reguliere sich selbst.
Das stimmte sogar, aber nur im selben Sinn, wie ein Löwe die Zahl der Gazellen “reguliert”.
Und wenn der Löwe zu fett wurde, erklärte man das zur “natürlichen Ordnung”.
So blieb das System stabil.
“Stabil” im Sinne von: Es fällt erst zusammen, wenn man hinsieht.
Denn Reichtum ist in Wahrheit keine Sache, sondern ein Zustand - so wie Trunkenheit, nur mit besseren Anzügen. Die Bewohner der oberen Türme hatten die Kunst perfektioniert, Dinge zu besitzen, ohne je zu bezahlen.
Kapitel 6 - Die Medienalchemie
Die Einflussmagier arbeiteten eng mit den Alchemisten der Nachrichtenzentren zusammen, einer Gilde, die einst der Wahrheit verpflichtet war, bevor sie sich entschied, lieber dem Einschaltquotenzauber zu dienen.
Sie hatten die Kunst perfektioniert, Emotionen zu destillieren. Ein Tropfen Angst hier, ein Spritzer Hoffnung dort, schon war die perfekte Mixtur für die abendliche Berieselung angerührt.
Sie nannten das “Neutralität”.
Neutralität bedeutete, jedem Unsinn dieselbe Sendezeit zu geben wie jedem Fakt. Wenn einer sagte, die Sonne ginge im Westen auf, fand man sofort jemanden, der das bestätigte, damit es “ausgewogen” war.
Und während die Zuschauer sich stritten, wer recht hatte, sammelten die Hochfinanzierten weiter ihr Gold.
Die Medienalchemisten waren nicht böse. Sie waren nur beschäftigt. Mit Formatentwicklung, Marktanalysen, und der Frage, wie man Werbung zwischen Elend und Wetterbericht schalten konnte. Sie entschieden, was ein Skandal war, und was “komplex”.
Ein Redakteur erklärte es so:
Wenn jemand zehn Millionen Euro veruntreut, aber niemand schreit, ist das keine Nachricht.
Wenn jemand zehn Leute anschreit, aber kein Geld stiehlt, ist das eine Sondersendung.
Und so geschah es, dass Empörung zum Treibstoff der Stadt wurde. Man brauchte sie, um die Türme sichtbar zu halten und die Ursachen unsichtbar.
Es blieb immer dasselbe:
Die Türme wuchsen weiter, und niemand fragte, wer sie baute.
Kapitel 7 - Der stille Vertrag
In den oberen Etagen der Türme tagten die Hochfinanzierten. Dort, wo die Luft dünn war und das Geld schneller floss als Sauerstoff. Sie wussten, dass ihre Macht nur so lange hielt, wie die Menschen unten glaubten, sie hätten keine Wahl.
Und so entstand ein unausgesprochener Vertrag:
- Die Reichen behielten das Geld.
- Die Einflussmagier behielten die Geschichte.
- Und das Volk bekam das Gefühl, alles wäre zu kompliziert, um es zu verstehen.
Eine brillante Konstruktion. Ein unsichtbares Uhrwerk aus Glauben, Bequemlichkeit und gelegentlicher Empörung.
Die Bürger von Ankh-Morburg glaubten fest an Dinge, die man anfassen konnte: Brot, Bier, und Wahnsinn. Aber Armut, die sah man nicht, denn sie wohnte in Daten. Und Daten waren so trocken, dass selbst Mitleid daran verdurstete.
Also glaubten sie nur, was auf Titelseiten stand.
Wenn da “Krise” stand, kauften sie Nudeln.
Wenn da “Aufschwung” stand, gingen sie trotzdem nicht mehr aus.
Und wenn da gar nichts stand, wussten sie: Es ist wieder Wahljahr.
Die Stadt lief wie geschmiert - mit Gold.
Kapitel 8 - Der kleine Funke
Niemand weiß, wo Geschichten beginnen. Manchmal in Palästen, manchmal in Hütten, manchmal in Kommentarsektionen.
In diesem Fall begann sie mit einer jungen Frau namens Tilla Trumm (unbezahlte Philosophin, gelegentliche Revolutionärin), einer Bäckerin mit einer unerklärlichen Vorliebe für Fußnoten. Sie schrieb:
“Wenn zehn Bäcker arbeiten und einer alle Brötchen isst, nennt man das Wirtschaft.”
Tilla hatte nämlich eines Tages genug von der täglichen Nachrichtenalchemie. Sie fragte sich, warum die Preise stiegen, während die Türme glänzten.
Und da tat sie etwas, was in Ankh-Morburg als gefährlich galt:
Sie zählte nach.
Nicht Münzen, sondern Menschen.
Und siehe da, die Zahlen ergaben Geschichten, die niemand erzählen wollte.
Sie entdeckte, dass die Stadt reich war - unvorstellbar reich -, nur dass Reichtum den falschen Weg nahm. Also begann sie, ihre Erkenntnisse auf kleine Zettel zu schreiben und sie den Leuten in die Brottüten zu legen.
“Der Turm lebt von eurer Arbeit”, stand da.
Oder: “Wenn Reichtum nach unten fließen soll, warum steht ihr im Regen?”
Oder: “Wie kann etwas wachsen, das schon alles hat?”
Manche lachten. Manche warfen die Zettel weg.
Aber einige lasen und dachten. Und das war der Anfang.
Kapitel 9 - Wenn die Geschichte kippt
Als diese Fragen die Runde machten, begannen einige Bürger, die Nachrichten nicht mehr zu glauben. Das machte die Zensoren nervös, denn nichts ist gefährlicher als ein Publikum, das denkt.
Geschichten sind wie Hebel. Mit genug Leuten am richtigen Punkt kann man damit Welten verschieben.
Das war gefährlich.
Also setzten sie ihre beste Waffe ein:
Ablenkung.
Neue Feinde, neue Empörungen, neue Talkshows.
Neue Skandale, neue Feinde, neue Angst.
Doch das Licht blieb.
Und das Problem mit Licht ist: Es lässt Gold ziemlich schnell wie Blech aussehen. Aber diesmal funktionierte der Zauber nicht mehr richtig. Denn wer einmal begriffen hat, dass der Magier nur Rauch und Spiegel benutzt, lässt sich nicht mehr so leicht blenden.
Kapitel 10 - Der Bruch im Turm
Der erste Turm fiel nicht durch Gewalt, sondern durch Einsicht.
Eines Morgens bemerkten die Hochfinanzierten, dass unten in der Stadt niemand mehr nach oben blickte. Ohne Bewunderung, ohne Angst, ohne Glaube, verloren die Türme ihre Schwerkraft.
Sie begannen zu bröckeln. Langsam, leise, wie ein Kartenhaus, dem die Lüge ausgegangen war.
Tilla stand da, mit Mehl an den Händen, und sah zu, wie der Glanz sich in Staub verwandelte.
“Das war’s also”, sagte sie.
“Nein”, meinte ein alter Mann neben ihr, “das ist erst der Anfang. Jetzt müssen wir rausfinden, wie man Häuser baut - ohne Türme.”
Epilog - Der Duft von frischem Brot
In den Straßen von Ankh-Morburg roch es nach Brot und Aufbruch. Die Menschen diskutierten, zankten, planten, manchmal chaotisch, manchmal klug. Aber zum ersten Mal seit Generationen waren ihre Geschichten ihre eigenen. Und das war Magie genug.
ENDE
(Oder besser gesagt: der Anfang einer neuen Zeitrechnung.)
Fußnote zur Moral
Es ist immer leichter, ein System zu glauben, das verspricht, dass alles so bleiben kann, wie es ist - bis man merkt, dass man selbst der Teil ist, der sich nicht mehr leisten kann, daran zu glauben.
Nachwort:
Natürlich, liebe Leserin, lieber Leser, ist dies alles nur ein Märchen. Reiche, die Steuern vermeiden, Medien, die Ablenkung verkaufen, Bürger, die lieber empört als informiert, sind reine Fantasie. In der wirklichen Welt würde so etwas ja niemals passieren. **
Es ist schon erstaunlich, wie robust die Wirklichkeit sein kann, solange man sie nicht zu genau anschaut. Sie sitzt auf ihrem Stuhl, trinkt ihren Kaffee, und sagt: “Alles in Ordnung hier, bitte weitergehen.” Und wenn man dann ganz genau hinhört, fügt sie hinzu: “Und wer redet, kriegt kein Interview mehr.”
Aber das Schöne an Geschichten ist: Sie erinnern uns daran, dass Dinge anders sein könnten. Dass Macht keine Naturgewalt ist, sondern ein Vertrag, sogar jederzeit kündbar, wenn man lesen kann. Und dass Hoffnung manchmal nur darin besteht, nicht mitzuspielen, auch wenn man das Spiel kennt.
Vielleicht, wenn Sie das hier lesen, heben Sie kurz den Blick - nicht nach oben, sondern zu den Menschen neben Ihnen. Vielleicht sind sie keine Helden, keine Magier, keine Journalisten. Aber sie sind das, was jedes System fürchtet:
Leute mit Zeit zum Denken.
Und das, mein Freund, ist der Anfang von allem.
** Wenn Sie an dieser Stelle nicken, haben Sie den Witz verstanden. Wenn Sie nicht nicken, gehören Sie vermutlich zum Aufsichtsrat eines Turmes.
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